Februar 2024
Vor einer Woche hat die EU-Kommission ein förmliches Verfahren gegen die
Internetplattform TikTok eingeleitet, um zu untersuchen, ob sie Jugendliche vor
illegalen, gesundheitsschädlichen oder „unangemessenen“ Inhalten und gegen
die Suchtgefahr schützt.
Wer es schafft, auch nur eine Stunde auf TikTok zu verbringen, dem stellt sich
die Frage nicht mehr angesichts der unschönen Mischung aus harmlosem
Blödsinn, Kindchensex, ekelerregender Brutalität – und wenn man sich
verklickt, gibt’s sogar Videos von Hinrichtungen. Der Algorithmus sorgt dafür,
dass besonders krasse Videos die höchsten Klickzahlen erzielen. Das ist das
Geschäftsmodell.
Aber es geht um weit mehr als um Jugendschutz. Zunehmend werden die 14 bis
24-jährigen Jungbürger, die Hauptnutzer von Tiktok, mit antidemokratischen,
menschenverachtenden bis faschistischen Videos überschwemmt, von
demagogischen Spitzenleistungen der Alice Weidel wie von den dumpfen
Sprüchen ihrer Follower. Die AfD ist rund zwanzigmal so präsent auf den
Platformen wie jede der anderen Parteien, wahrscheinlich mehr.
In der letzten Woche hat Tiktok nun einen Account gecancelt, der Clips aus
dem Podcast verbreitet, mit dem zwei rhetorisch begabte und geschäftstüchtige
deutsche Wirrköpfe seit einem Jahr eine brisante Mischung anrühren: Ratschläge
zu Lebensführung und finanziellem Erfolg für pubertierende Jungmänner, dazu
aggressive Männlichkeit, Weltverschwörungsphantasien über die Davos-Elite,
die Matrix der Medien und Schlüpfriges über pädophile Netzwerke oder
Prostitution, weiter: ein Frauenbild aus dem 19. Jahrhundert, Angst vorm Crash
der Weltwirtschaft, vor „aus dem Zoo entlaufenen“ Migranten auf nächtlichen
Straßen, dazu die Bewunderung vitale junger Nationen, die ihre Volksschädlinge
noch hinrichten und die uns dekadente Deutsche wegpusten werden, das Lob
sauberer Straßen im katholischen Polen und starker Männern wie Trump oder
Putin oder beide zugleich.
Ziemlich eklig das Ganze, maßgeschneidert für Verunsicherte und unberaten
suchende junge Menschen. Die Beleidigungen und Lügen sind – feige genug –
immer gerade knapp unterhalb der justiziablen Schwelle. Und nie fällt das
Wort, aber die Partei ist klar. Der Podcast auf Youtube und Spotify steht
regelmäßig an der Spitze der Charts, die Clips auf Tiktok haben inzwischen eine
Milliarde von Aufrufen. Da soll offenbar eine junge, radikale Jugendbewegung
herbeigezogen werden. Mit Winzbeträgen honorieren die beiden
millionenschweren und steuerfeindlichen Finanzdienstleister die
Weiterverbreitung ihres Ideologiegebräus durch ihre Fans auf Instagram,
Twitter, Tiktok – weswegen für die Sperrung eines Accounts sechs Neue
nachwachsen.
Parallelen liegen nah: die Mischung von orientierungslosen Jugendlichen,
rechtsradikalen Demagogen, unsicheren Zukunftsaussichten, und einem neuen,
rasanten, Medium – die hat es vor 100 Jahren schon einmal gegeben. Aber
Parallelen zu den Nazis zu ziehen, ist unhistorisch und bringt nichts. Daraus
wächst noch keine Verhinderungsstrategie.
„Öffentlichkeit ist das Gefäß der Demokratie“ sagte Alexander Kluge einmal,
„wer sie zerstört, ist ein Geschichtsverbrecher“. Die Zerstörung ist weit
fortgeschritten. Ihr Urknall war 1986, lange vor Tiktok, als das duale System
abgeschafft wurde, denn ursprünglich hieß das ja: die Printmedien sind privat,
die elektronischen Massenmedien öffentlich-rechtlich, und die Liberalen dem
nichts entgegensetzten. Seitdem hat der Druck auf die nichtkommerziellen
Medien nicht nachgelassen. Politiker, die opportunistisch gegen das
„Bezahlfernsehen“ polemisieren, Großverleger, die die ARD als
nordkoreanischen Staatsfunk denunzieren, sie habe sich gleichermaßen schuldig
gemacht. Die Privatisierung der Medien sei gefährlicher als Atomkraft, sagte
Helmut Schmidt damals. Heute beginnen wir den fallout zu spüren. Und für den
Aufstieg der Klickmedien sind auch die Bildungsbürger und die aufgeklärte
Eltern mitverantwortlich, die sich aus Ekel und Massenverachtung und
intellektuellem Dünkel diese Abgründe ebenso wenig wie BILD angesehen.
Aber heute ist es nicht mehr fahrlässig, wenn die CDU in ihren
„Medienpapieren“ populistisch gegen die Zwangsgebühren agitiert, statt den
nicht kommerziellen Medien Raum zur Entwicklung zu sichern, am besten durch
das Grundgesetz.
An Verbote wagt im freien Westen bislang niemand zu denken, jedenfalls nicht
öffentlich, nicht einmal an einen TÜV für die Algorithmen oder die Anwendung
des Presserechts auf die Lügenblasen. Aber in den Parlamenten, in den
Landeskriminalämter, in den Lehrerzimmern, sitzen viele Tausende Menschen,
die sich große Sorgen machen um die Urteilsfähigkeit und die Seelen ihrer
Kinder oder Enkel, und um die Demokratie. Warum sind sie so machtlos?

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