CECHOVS AKTUALITÄT

Am 29. Januar l860 wurde Anton Cechov in Taganrog am Asowschen Meer geboren,
als Sohn eines bigotten, herrschsüchtigen, autoritären kleinen Krämers. In Moskau
studierte er Medizin, nachts schrieb er humorige Feuilletons für die Zeitung, um die
verarmte Familie zu ernähren.Berühmt wird er mit Erzählungen über eine stagnierende
Zeit, über die Dumpfheit der Muschiks, die Nichtsnutzigkeit des Adels, die doppelte
Moral der Bürger, die Wirrungen der Liebe, die Fragen nach dem Sinn des Lebens, auf
die es keine Antwort gibt, außer vielleicht – so sagt er seiner Frau: „Eine Mohrrübe ist
eine Mohrrübe“. Gegen Ende seines Lebens erst schreibt er die Komödien: Die
Möwe, Onkel Wanja, Drei Schwestern, Der Kirschgarten. Nur Shakespeares Stücke
werden häufiger gespielt.
Cechov starb 1904. Cechov ist, so glaube ich, in einem sehr dringlichen Sinne aktuell.
Er leistet einen wesentlichen Beitrag zu unserem Umgang mit den Krisen der
Gegenwart: der Krise einer untergehenden Wohlstandswelt, der Krise der
Arbeitsgesellschaft, ja, selbst der Klimakrise.
Und das nicht, weil es im Kirschgarten um die Zerstörung kultivierter Natur durch
Profitgier geht. Nicht, weil in den drei Schwestern gebildete Menschen verzweifeln,
weil es keine sinnvolle Arbeit für sie gibt. Und auch nicht, weil im „Onkel Wanja“ der
resignierte Arzt, Dr. Astrow, das Schrumpfen der russischen Urwälder kartographiert
und klagt: „Es ist schon fast alles zerstört, aber als Ersatz dafür ist noch nichts, nicht
Neues geschaffen.“
Es sind nicht die ökologischen Einsichten des Dr. Astrow, und nicht die Merksätze
über den erzieherischen Wert und die sittliche Höhe der Arbeit, die uns berühren.
Dichtung ist kein Sozialkundeunterricht. Nein, was uns interessiert und trifft, das ist
gerade die Resignation des Dr. Astrow, die Entschlusslosigkeit der drei Schwestern,
die Unfähigkeit der Fabrikantentöchter, Kleinadeligen oder Professoren, sich aus den
Klammern der Konvention und der Zaghaftigkeit ihres Begehrens zu befreien. Ihre
Unsicherheit, selbst über sich selbst und das, was sie fühlen. „Nikolaj Alexejevic, in
ihrer Stimme liegt so viel seelenloser Egoismus, so viel kalte Herzlosigkeit“, muss
sich Ivanov im gleichnamigen Stück anhören, und er entgegnet: „Kann sein, kann
sein..durchaus möglich…wahrscheinlich…Sie als Außenstehender sehen das
womöglich deutlicher.“ Cechovs Menschen trauen ihren Gedanken und Gefühlen
nicht. Sie sind Menschen, nicht ohne Eigenschaften, aber ohne Klarheit. Das macht sie
zu frühen Zeitgenossen des 20. Jahrhunderts, und erst recht zu unserem.
Es gibt Zeiten, die versandende Aufbrüche und quälende Unentschiedenheiten stärker
begünstigen als andere. Cechovs Lebenszeit war eine solche. Eine alte Welt ging
unter, eine neue war nicht da. „Die Adeligen“, schrieb Leo Trotzki über diese Zeit,
„hörten auf, liberal zu sein, die Kaufleute hatten noch gar nicht angefangen damit. Die
Polizei beherrschte alles. Die Intelligenz wandte sich der reinen Kunst zu.“ In den
Salons von Petersburg wurden Stühle gerückt – Wellen des Spiritismus und der neuen
Religiosität, Vegetarismus, des neurotischen Kreisens um sich selbst. Leo Tolstoi zog
sich auf eine Landkommune zurück. Yogha gab es noch nicht. Aufgeklärte Menschen,
die nicht in die sibirische Verbannung geschickt wurden, redeten, und
problematisierten, und redeten…über die Menschen, „die zweihundert Jahren nach uns
leben werden, und die uns verachten werden…..“
Erzähler – und auch als Dramatiker ist Cechov ein Erzähler – haben ihre Autorität
vom Tod geliehen. Vom Tod, in dem erst sichtbar wird, was das war: dieses Leben aus
Bruchstücken, Begierden, Erfüllungen, Scheitern, Liebe und Verrat. Was nicht getan
ist, wird nicht mehr getan, was nicht gesagt ist, kann nicht mehr gesagt werden, was
nur werden sollte, könnte, was nur gewünscht, geträumt, beredet wurde, das kann
nicht mehr sein. Im Tod zeigt sich, ob da jemand war, oder ob nur „etwas“. Etwas, das
sich ein Leben lang und noch im Sterben als etwas erfährt, das so ist, als wäre es nicht
gewesen.
So wie der Medizinprofessor, in der „Langweiligen Geschichte“, ein berühmter, seiner
Wissenschaft ergebener Mann, der sein „ganzes Leben danach gestrebt hat, seine
Anwesenheit für seine Familie, die Studenten und Kollegen und das Dienstpersonal
erträglich zu gestalten“, und dem am Ende seines Lebens – er weiss, dass er bald
sterben wird – alles zerbröselt. „Meinen Wünschen“, so gesteht er sich in einer
schlimmen Nacht ein, „fehlt etwas Wesentliches…Jedes Gefühl und jeder Gedanke
existiert gesondert in mir, und in allen meinen Urteilen über Wissenschaft, Theater, Literatur undsoweiter wird selbst der erfahrenste Analytiker nichts von dem finden,
was man eine allgemeine Idee oder den Gott des lebendigen Menschen nennt. – Und
wenn das fehlt, so ist überhaupt nichts da.“ Mehr hat uns zwei Lebensalter später auch
Camus nicht zu sagen.
Als Cechov diese kurze Novelle oder lange Erzählung schrieb, war er selbst dem Tod
begegnet. Sein geliebter Bruder war gestorben, an derselben, damals unbehandelbaren
Tuberkulose, die er an sich selbst diagnostiziert hatte. „Skizzen, Feuilletons,
Dummheiten, puddingweise beschriebenes Papier, der Preis der Akademie“, schreibt
er seinem Verleger, „und bei alledem keine Zeile, die ernsthafte literarische Bedeutung
besäße…Ich muß lernen, muß alles ganz von vorn lernen. Im Januar werde ich
dreissig.“
Cechov war Arzt, und Cechov war Erzähler. Von nun an lebten die beiden in einem
kollegialen Nebeneinander. Der Arzt und Bürger bricht l890, gegen den Rat seiner
Ärzte, zu einer sechsmonatigen Reise nach Sachalin auf, zum hintersten Winkel des
Zarenreiches, an den Kriminelle, Politische Gefangene und Unangepaßte verbannt
worden. Auf 10 000 Karteikarten dokumentiert er die Häftlingsbiographien, die
Ernährung, die Körperstrafen, die Unwissenheit der Gouverneure, und schreibt eine
Sozialreportage, die zu einer Untersuchung der Verhältnisse in den Lagern führt. Er
versorgt seine Eltern und Geschwister mit einem kleinen Landgut, er pflanzt Bäume
und Blumen, kämpft als Landarzt gegen zwei Cholera-Epidemien, baut auf seine
Kosten drei Schulen. „Es wäre schön“ schreibt er in sein Notizbuch, „wenn jeder von
uns eine Schule, einen Brunnen oder etwas ähnliches hinterließe, damit sein Leben
nicht spurlos vorübergeht und sich in der Ewigkeit verliert.“ Es wäre schön – Cechov
war ein höflicher Mensch, keiner, der eine neue Moral predigte, wie Tolstoi, keiner der
Roman über die Tiefen der Verdammnis schrieb, wie Dostojewski.
Auch als Erzähler hatte er etwas von einem Arzt, einem allerdings, der um seine
begrenzten Mittel und die Natur seiner Patienten weiss. Ein Hausarzt seiner Figuren,
ein scharfer Diagnostiker, aber eher einer, der nicht mit donnernden Worten vom
Rauchen abrät, sondern von einem erzählt, der gerade an Lungenkrebs stirbt. Es wäre
schön…Cechov sticht mit einer feinen Nadel in diese ewige Lücke zwischen dem
Anspruch, den wir an uns haben, und der Erfahrung des täglichen kleinen Scheiterns,
ja des Verrats und des Selbstverrats. Und er überläßt es uns, den Lesern, ob wir mit
den verarmten Adeligen, die ihr Leben verplempern, oder mit den Studenten und
Sozialreformern, die an ihrem Idealismus wahnsinnig werden, mit den Scheiternden
und Müden – also mit uns – Mitleid haben wollen, oder sie verachten , oder
verurteilen.
„Ich habe mich oft gefragt, woher das Sanfte und Gute kommt, weiss es auch heute
nicht, und muss nun gehen“, schreibt Gottfried Benn, fünfzig Jahre nach Cechovs Tod.
Das klingt wie ein Echo auf die Schlussszene der „Drei Schwestern“ . Dort sagt der
scheidende Hauptmann Versinin: „Wenn man nur dem Arbeitswillen Bildung
verleihen könnte, und der Bildung Arbeitswillen…(blickt auf die Uhr)…Aber ich muß
jetzt gehen.“ Cechovs Erzählungen und Dramen haben kein Ende und keinen
Anfang. Das bringt uns seine Menschen so nahe. Sie stehen alle mitten im Leben,
und wollen und wagen nicht genug, gemessen an ihren Wünschen.
Warum nicht? Da gibt es keinen Grund, nur tausende von Geschichten, tausende
von Gründen und Anlässen, und auf die richtet sich Cechovs Blick: auf die
kleinste Wendung, die einem Leben eine neue Richtung gibt oder zum
Verharren im Stillstand führt. „Ich glaube daran“, sagt einer seiner Helden, „daß
nichts spurlos vergeht und daß der kleinste unserer Schritte von Bedeutung für
unser gegenwärtiges und künftiges Leben ist“.
Der kleinste Verrat und Selbstverrat und die kleinste Geste der Liebe. Am
nächsten, am Fernen, und an uns selbst. Und die Aufgabe des Erzählers besteht
darin – es ist seine Aufgabe, seit der ersten Stadt, die in der Bibel erwähnt wird – den
Glauben an diese ununterbrochene Kette bedeutender, kleinster und größter Ereignisse
zu festigen. Das ist leicht in Zeiten starker Traditionen, stabiler Religionen und klarer
Normen und – schwieriger, prekärer und kunstvoller – in solchen komplizierter
Verhältnisse und schwacher Bindung… in denen ein Philosoph über die Klima
Konferenz in Kopenhagen schrieb: „Die Menschen sind Zukunft-Atheisten, sie
glauben nicht an das, was sie wissen, selbst wenn man ihnen stringent beweist, was
kommen muss… Ich denke, dass diese Ungläubigkeit das letztlich entscheidende
Element der Krise ausmacht.“
Gegen diesen Ungläubigkeit, die unser Erbteil ist, hat Doktor Anton Cechov
angeschrieben, mit dem scharfen Blick fürs Kleinste, mit dem demütigen
Einverständnis in die Begrenztheit unserer Kräfte, mit dem Humor dessen, der seinem
Tod früh begegnet ist. Er ermuntert uns zu dieser Begegnung. Höflich.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert