Kein Wort war während des Wahlkampfes so oft zu hören wie “Aufbruch“. Wechsel, Wandel, Neustart – die Formeln reflektierten eine verbreitete Stimmung im Lande. Aber: „So wie es ist, kann es nicht bleiben“ – der Slogan klingt auch wie eine Drohung: Macht Euch auf heftige Veränderungen gefasst. Und das nicht zum Besseren.

Wie anders der Aufbruch vor fünfzig Jahren. Damals, Mitte der Sechziger, war das Land – Westdeutschland – nach zwei Jahrzehnten rasanten Wachstums nicht im besten Zustand: einsetzenden Arbeitslosigkeit, Facharbeitermangel, 10 % NPD in Landesteilen, Bildungskatastrophe und der Mehltau einer konservativen, männerbetonten Gesellschaft, deren Eliten noch zu großen Teilen im NS geformt worden waren.

Publizisten, Wissenschaftler, progressive Unternehmer, Gewerkschafter forderten eine Erneuerung; dazu kam die Studentenbewegung. Die Rechte schürte die paranoide Angst vor einer Machtergreifung der Roten. Das Land war gespalten, dann siegte Willy Brandt mit der Parole „Mehr Demokratie wagen“. Gegen heftigste Widerstände krempelte die siegreiche Koalition von Frei- und Sozialdemokraten in Jahresfrist das Land um: Ostpolitische Wende, eine Bildungsrevolution, die Gleichstellung der Frauen, mehr Mitbestimmung, das erste Umweltressort. Westdeutschland wurde liberaler, moderner, weltoffener, gerechter, weiblicher.

Der Aufbruchs-Frühling dauerte vier Jahre, bis die Ölkrise und die auf sie folgende Rezession, der Zusammenbruch des Weltwährungssystems, viele Hoffnungen zerplatzen ließen. Seither kämpfen alle westlichen Industrienationen mit dem Fall der Profitraten, flacht die Wachstumskurve ab, schwächt die Globalisierung die Regierungen, vergrößern sich die Umweltschäden. Die liberale Regierung Lambsdorff-Kohl suchte in den Achtzigern, wenn auch zaghaft, mit Reformen der Arbeitsbeziehungen, einer Senkung von Reallöhnen und Renten gegenzusteuern, aber erst die Wiedervereinigungskonjunktur und die elektronische Revolution schufen kurzzeitig Abhilfe.

Der Massenwohlstand ruhte zunehmend auf dem Export, dessen Anteil am Sozialprodukt sich in den Neunziger-Jahren verdoppelte. Auch die Auslandsinvestitionen versechsfachten sich in seit 1990; die Verletzlichkeit durch die Risiken des Weltwirtschaft wuchs entsprechend. Die Binnenwirtschaft stagnierte, Infrastruktur, Bildungssystem, Gesundheitswesen litten zunehmend Not. Und die Kluft zwischen arm und reich wuchs. Die Regierung Schröder radikalisierte den Konsolidierungskurs: Hartz IV, Arbeitslosenversicherung, weitere Rentensenkungen, grünes Licht für Leiharbeit und damit der Einstieg in die Altersarmut, eine Steuerreform, die kräftig von Arbeit zu Kapital umverteilte. Dazu eine halbherzige Energiepolitik: Deutschland stieg zwar aus der Atomenergie aus, aber der Einstieg in die Erneuerbaren schleppte sich hin, der Klimawandel wurde erkannt, aber nichts Großes geschah. Aufbruch hätte anders ausgesehen.

Ein wirklicher Aufbruch heute: das hieße zunächst einmal: Mut zur Wahrheit. Sich der Bilanz stellen: Über das Ausmaß der aufgelaufenen Versäumnisse bei der Digitalisierung, beim Rentensystem, in der Energiepolitik. Über die Blockaden der Bürokratie, regionale Egoismen und den Investitionsstau. Über die Bildungskatastrophe und den Verfall der Qualifikationen. Über die wachsende Ungleichheit und ihre Folge: die Spaltung und Radikalisierung der gesellschaftlichen Mitte. Und, an Dringlichkeit alles andere überbietend, über die Dramatik von Klimawandel, Artenschwund und Rohstofferschöpfung und das Drohen neuerlicher Migrationswellen.

Eine Regierung des Aufbruchs müsste einen die ganze Gesellschaft ergreifenden Wandel orchestrieren: technologische Großprojekte wie die Wasserstoffwirtschaft initiieren, damit Chemie-, Zement- und Stahlindustrie in die neue Epoche finden; bürokratische Hemmnisse und bürgerliche Egoismen auflösen, damit Trassen für den Strom aus Windrädern und „smarte Großstädte“ mit bezahlbaren Wohnungen entstehen können. Sie müsste für eine Veränderung der Ernährungsgewohnheiten werben, damit die Agrarwende eine Chance hat; über das Elektroauto hinausdenken, um eine wirkliche Verkehrswende möglich zu machen; die Konsumerwartungen korrigieren, damit die Kluft zwischen reichen und armen Ländern ein wenig geringer wird. Und, weil alles mit allem zusammenhängt, müsste sie „alles auf einmal“ nicht bewältigen, aber zumindest beginnen. Und dass hieße auch: sie müsste der Gesellschaft ein Mehr an Bewusstsein und Selbstbewusstsein vermitteln – und die Politiker finden, die das können: die Bürger für eine Art ökologisch-sozialer Mondmission zu begeistern. Denn, wenn die anstehende Transformation demokratisch zustande kommen soll und nicht durch einen autoritären Notstandsstaat oder den brutalen Zwang der ökonomischen Verhältnisse, dann muss sie von einer Mehrzahl der Bürger getragen werden, nicht als Erduldende, sondern als Mitgestaltende. Wenn Bürger sich in Kommunen, Schulen, Universitäten, Forschungseinrichtungen und Betrieben für diese Erneuerung begeistern und Zukunftsvertrauen gewinnen. Und deshalb gilt mehr denn je der Satz Willy Brandts: die Schule der Nation ist die Schule.

„Mehr Demokratie wagen“: In den Sechzigern ging es darum, die Früchte des gewachsenen Wohlstands und die Chancen auf Teilhabe gerechter zu verteilen. Beim Ernstfall, auf den wir zugehen, geht es um die gerechte Verteilung der Zumutungen, um den Rückzug aus der unhaltbaren Illusion ewigen Wachstums, um eine Neubestimmung des Verhältnisses von individueller und kollektiver Freiheit.

Technische Lösungen, um dem Klimawandel und anderen Umweltgefahren zu begegnen, sind in der Entwicklung. Über die notwendigen Verhaltensänderungen wird seit Jahrzehnten diskutiert. Die Einsicht in die Notwendigkeit eines radikalen Wandels und die Bereitschaft vieler Bürger zu grundlegenden Veränderungen – davon bin ich überzeugt – sind vorhanden. Und sei es, dass sie nur ihrer Enkel wegen bereit für Veränderungen sind. Das ist eine große Chance für Politiker, die den Mut haben, diese Bereitschaft abzurufen. Die einen Plan haben und die Fähigkeit, für ihn zu werben. In ein paar Wochen werden wir wissen, ob tatsächlich der Wind des Wechsels weht, oder ob, wie so oft, die Hoffnungen, die sich an einen Regierungswechsel heften, enttäuscht werden.

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